Experteninterview: Wie man den Rücken selbst heilen kann
Warum kommen Rückenschmerzen oft wieder und werden chronisch? Und welchen Einfluss haben wir selbst darauf, schmerzfrei zu werden? Wir haben den Rückenexperten Dr. Martin Marianowicz befragt.
- Warum empfiehlt ein Orthopäde Patienten, den Rücken selbst zu heilen?
- Auch bildgebende Verfahren wie Röntgen zeigen keine Ursache für ihre Beschwerden?
- Jeder Mensch nimmt Schmerz also anders wahr und reagiert entsprechend unterschiedlich?
- Wer Rückenschmerzen hat, sollte also besser nicht zum Orthopäden gehen?
- Was sollen Rückenpatienten tun, um diese Selbstheilung zu unterstützen?
- Bei Rückenschmerzen sollte man demnach der Psyche etwas Gutes tun?
- Welche Rolle spielt bei Rückenproblemen Mobilisation?
Probleme mit dem Rücken sind weit verbreitet und meist nicht gefährlich. Sie können jedoch die Lebensqualität erheblich einschränken. Wer chronisch unter Rückenschmerzen leidet, richtet oft sein ganzes Leben nach dem Schmerz aus. Die Praxen der Orthopäden und Chirurgen sind deshalb gut gefüllt, die Wartezeiten lang.
Da erscheint die Aufforderung des Orthopäden Dr. Martin Marianowicz, der selbst auch als Rückenchirurg tätig ist, provokant: " Den Rücken selbst heilen" lautet der Titel seines neuen Ratgebers (Gräfe und Unzer Verlag, € 19,99).
Das setzt voraus, dass Rückenprobleme auch ohne Hilfe des Orthopäden oder Chirurgen verschwinden können. Special Rückenschmerz sprach mit dem Rückenexperten über seine Motive und darüber, ob die Selbstheilung bei Rückenschmerzen tatsächlich möglich ist.
Warum empfiehlt ein Orthopäde Patienten, den Rücken selbst zu heilen?
Dr. Martin Marianowicz: Tatsache ist, dass es zwar viele Operationstechniken und Behandlungsformen gegen die unterschiedlichen Rückenprobleme gibt. Doch 50 Prozent der Patienten bekommen danach erneut Schmerzen.
Woran liegt das, sind die Behandlungsmethoden schlecht?
M. M.: Nein, doch die Grundlage der meisten Therapien ist eine Reparaturmentalität, also einfach wie bei einem Auto mit Problemen massiv eingreifen und austauschen. Doch bei Rückenschmerzen funktioniert diese Methode häufig nicht. Um das besser zu erklären, braucht es an dieser Stelle ein paar Zahlen.
Untersuchungen an schmerzfreien 60- bis 70-Jährigen haben gezeigt: 92 Prozent von ihnen hatten Bandscheibenvorfälle, 98 Prozent Verschleißerscheinungen an den Wirbelkörpern und 40 Prozent Spinalkanalstenosen. Sie hatten also organische Veränderungen, aber keine Schmerzen! Von den Patienten, die Rückenschmerzen haben, lässt sich bei 60 bis 80 Prozent jedoch kein passender Befund finden.
Auch bildgebende Verfahren wie Röntgen zeigen keine Ursache für ihre Beschwerden?
M. M.: Ja, und das ist das Problem. Bei Rückenschmerzen gibt es deshalb zwei Stellschrauben, wenn sie verschwinden sollen: Auch wenn organische Veränderungen, etwa ein Bandscheibenvorfall, vorliegen, muss das nicht bedeuten, dass dadurch Rückenschmerzen entstehen. Mindestens genauso wichtig im Zusammenhang mit Rückenschmerzen ist nämlich der Kopf. Denn Schmerz entsteht im Kopf – hier wird er wahrgenommen, verarbeitet und die Reaktion angeschoben.
Jeder Mensch nimmt Schmerz also anders wahr und reagiert entsprechend unterschiedlich?
M. M.: Da kommt die Neurowissenschaft ins Spiel, hier nur ein kurzer Exkurs. Es kommt darauf an, wie ein Mensch bereits als Kind gelernt hat, mit Schmerzen umzugehen. Hatte er eine Mutter, die an Migräne litt und deshalb tagelang im verdunkelten Zimmer liegen musste? Hat Schmerz das Leben beeinflusst, wurde der ganze Tagesplan nach ihm ausgerichtet?
Zusätzlich spielt die Erwartungshaltung eine bedeutende Rolle. Ein Studie zeigt beispielsweise, dass der gleiche, leichte Schmerz viel massiver wahrgenommen wird, wenn man dem Probanden sagt: Achtung, jetzt wird es sehr, sehr schmerzhaft – im Gegensatz dazu, wenn er vorher hört: Das tut jetzt nur etwas weh. Der gleiche Schmerz wird bei der massiven Ankündigung als vier- bis fünfmal stärker wahrgenommen.
Welche Konsequenz hat das für den Patienten?
M. M.: Es ist besser für den Patienten, wenn der Arzt sagt: "Ihr Rücken hat altersentsprechende Veränderungen" und nicht "Das sieht aber ganz schön schlimm aus, da gibt es einiges zu tun".
Wer Rückenschmerzen hat, sollte also besser nicht zum Orthopäden gehen?
M. M.: Das stimmt natürlich auch nicht. Doch Tatsache ist, dass sich 90 Prozent der Rückenprobleme nach sechs bis zwölf Wochen von selbst legen, egal, ob ein Arzt tätig wurde oder keine Behandlung stattgefunden hat.
Was sollen Rückenpatienten tun, um diese Selbstheilung zu unterstützen?
M. M.: Betroffene sollten erst einmal hinterfragen, in welchem Zusammenhang der Schmerz steht, welchen Einflüssen er unterliegt. Wer etwa ein Schmerztagebuch führt, wird beispielsweise erkennen, dass die Rückenschmerzen eingetreten sind, als das Jahresgespräch mit dem Chef unangenehm verlief. Oder im Privatleben Stress auftrat. Wer das erkennt, kann die psychischen Belastungen, die den Schmerz aktivieren, meist zwar noch nicht auflösen, aber dennoch in Angriff nehmen.
Bei Rückenschmerzen sollte man demnach der Psyche etwas Gutes tun?
M. M.: Es gibt ausgebildete schmerztherapeutische Psychotherapeuten oder Psychosomatiker. Sie helfen dabei, mit dem Schmerz besser umzugehen. Eigentlich gehört das gemäß den Leitlinien zur Therapie von Rückenschmerzen. Doch nur 15 Prozent der Rückenpatienten erhalten diese adäquate Behandlung. Experteninterview: Den Rücken selbst heilen
Welche Rolle spielt bei Rückenproblemen Mobilisation?
M. M.: Es kommt auf die innere und äußere Haltung an. Über Letztere gibt es bereits jede Menge Information, also die richtige Bewegung bei Rückenschmerzen und zur Vermeidung von Rückenschmerzen. Damit ist letztendlich die äußere Haltung gemeint. Über die innere dagegen gibt es noch viel zu wenig. Sinnvoll ist es, zu analysieren: Warum empfinde ich den Schmerz so stark? Was war der Auslöser? Welche Lebensumstände und Situationen stecken dahinter? Wie kann ich sie verbessern? Wenn ich das erkenne, ist damit schon der erste Schritt zur Schmerzbewältigung und vielleicht sogar Schmerzfreiheit getan.